Südkurier 04.04.2019:
Wege aus der Einsamkeit gesucht
> Region entwickelt Projekte für alternde Gesellschaft
> Ideen von Nachbarschaftshilfe biszu Seniorenräten
Staatssekretärin Bärbel Mielich diskutiert mit Herbert Zunftmeister vom Hilzinger Seniorenrat, Singens Sozialbürgermeisterin Ute Seifried, Charlotte Kiener aus Hilzingen, Maren Kanz aus Aach, Einsatzleiterin Ingrid Gielen vom Sozialen Netzwerk Aach und der Grünen-Landtagsabgeordneten Dorothea Wehinger die Herausforderungen der Demografie. BILDER: MATTHIAS BIEHLER
VON MATTHIAS BIEHLER
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Hegau – Gesucht wird ein Mittel gegen Vereinsamung. In Aach forschen die Aktivisten des Sozialen Netzwerks nach der passenden Idee, in Singen nennt sich das Projekt „Älter werden im Quartier“, in den Nachbargemeinden Hilzingen, Gottmadingen und Rielasingen-Worblingen stemmen sich Seniorenbeiräte gegen eine Entwicklung, die Menschen mit steigendem Lebensalter in die soziale Isolation treibt und auch Steißlingen setzt auf den Gedanken der Nachbarschaftshilfe. Doch Ehrenamtliche stoßen dabei oft an ihre Grenzen. „Wenn sich die Betroffenen oder ihre Angehörigen an uns wenden, ist es oft schon zu spät“, beobachtet Ingrid Gielen als Einsatzleiterin des Sozialen Netzwerks in Aach.Ihre Erfahrung ist, dass sich viele Senioren zieren, sich ihre Hilflosigkeit einzugestehen und wenn es denn unvermeidlich ist, ist der Schritt in die Betreuungseinrichtungmeist nicht mehr zu vermeiden.
Doch gerade in den Jahren zuvor droht Vereinsamung, wenn das soziale
Umfeld wegstirbt. Uwe Rumpp, Senior aus Rielasingen-Worblingen, beobachtet, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet. Wo vor 100 Jahren Mehrgenerationenwohnen in vielen Familien noch normal war, muss man heute
Projekte ins Leben rufen, um Alt und Jung zusammenzuführen, da die Individualisierung von Lebensläufen immer häufiger Biografien aus zwischenmenschlichen Bindungen herauslöst – ganz egal ob aufgrund beruflicher Ortswechsel oder gescheiterter Beziehungen. Statistisch sei zu beobachten, dass im Alter immer mehr Menschen auf sich alleine gestellt sind und damit nicht mehr zurechtkommen. „Es muss uns gelingen, den demografischen Wandel so zu gestalten, dass er
für alle zum Gewinn wird“, betont Bärbel Mielich, Staatssekretärin aus dem
Landessozialministerium, bei ihrem Besuch im Hegau. Sie ist nicht zum ersten Mal in Singen und kennt die Ambitionen der Stadt, soziales Leben zu entfachen. Die Beteiligung am Landesprogramm „Älter werden im Quartier“ ist da ein wesentlicher Baustein. „Es ist eine gute Zeit, etwas Neues entstehen zu lassen“, betont Mielich. Einerseits sei es Ziel der Sozialpolitik, die ambulante
Pflege auszubauen und möglichst vielen Menschen den Umzug in die Pflegeeinrichtung zu ersparen, denn dies entlaste auch die Sozialkassen. Andererseits müsse man erkennen, dass der Wunsch, zu Hause alt zu werden, auch zur Herausforderung für Angehörige wird. „70 Prozent der zu Pflegenden
werden zuhause betreut“, sagt Mielich in Bezug auf die Mehrbelastung für
pflegende Angehörige. Und Parteikollegin Dorothea Wehinger, Landtagsabgeordnete der Grünen, ergänzt: „Pflegende Angehörige werden in der Debatte oft vergessen.“ Der Ausbau ambulanter Betreuungsangebote hat für beide deshalb Priorität – ganz egal ob es um Tages- oder Nachtpflegestationen geht. „Das sind die Betreuungseinrichtungen für Senioren“, sagt Mielich. Und genau davon gebe es zur Entlastung Angehöriger noch viel zu wenige in Baden-Württemberg. Beim Schwerpunkt Quartiersentwicklung sei es wichtig, Betreuungseinrichtungen nicht nur für
Bewohner zu konzipieren, sondern für die Nachbarschaft zu öffnen, wie es im
Konzept des Servicehaus Sonnenhalde vorgesehen sei. Heimleiterin Heidrun
Gonser hat damit gute Erfahrungen gemacht: „Unsere Offenheit wird angenommen“, sagt sie.